Vor ein paar Tagen dachte ich über das Glück nach – vielleicht, weil es mich schon länger nicht mehr besucht hat. Ich fragte drei Freun­de, was denn für sie Glück sei. Der erste meinte: »Glück ist ein fliehendes Pferd. Je mehr du ihm hinterherrennst, um so schneller galoppiert es davon.« Eine Freundin sagte: »Glück, das ist für mich ein liebevoller Mann, schmerzfreie Gelenke – und wenn ich ein Paar wunderschöne Schuhe entdecke, die ich mir auch leisten kann.« Der dritte Freund dagegen erklärte: »Glück ist, nicht über das Glück nach­zudenken, sondern schöne Momente bewusst zu erleben.« Da fiel mir plötzlich eine kleine Geschichte ein:

Vor vielen Jahren – ich war noch Studentin – hatte ich einmal einen Nachbarn, der hieß Schmidt. Er war ein rechter Sonderling und Einzelgänger und wohnte in einem kleinen Mansardenzimmer. Von meiner Studentenbude und meiner winzigen Dachterrasse aus hatte ich direkten Einblick in sein bescheidenes Zuhause. Herr Schmidt grüßte mich immer sehr freundlich, wenn er am offenen Fenster seine Morgengymnastik machte. Allerdings war das meist schon nach der Mittagszeit, denn Herr Schmidt war kein Frühaufsteher. Wenn ich am späten Vormittag zur Uni eilte, waren seine blauen Holzläden noch geschlossen. Dafür wachte ich manch­mal in der Nacht auf, wenn ich von gegenüber das leise Klappern seiner alten Schreibmaschine hörte. Herr Schmidt, so hieß es, sei Privatgelehrter.

KatzeSchoen

Jeden Abend gegen 18 Uhr – ich konnte tatsächlich die Uhr nach ihm stellen – verließ Herr Schmidt das Haus, sommers wie winters in einen langen, verfilzten Wollmantel gekleidet. Dann ging er gemächlich wie ein in Gedanken versunkener Philosoph die Straße auf und ab. Dabei hob er stets Kaugummipapierchen, Ziga­retten­kippen und anderen achtlos weggeworfenen Müll auf, tat ihn in einen mitgebrachten Papierbeutel, den er dann in der nächsten Mülltonne entsorgte. Wie gesagt, Herr Schmidt war ein ganz besonderer Mensch, der nur für sich und seine Katze lebte.

Ja, Herr Schmidt hatte tatsächlich eine Katze – und das fand ich lustig. Gab es doch den Spruch »abgehen wie Schmitz Katze«, der wohl bedeutete, dass jemand außerordentlich schnell war. Die Katze von Herrn Schmidt dagegen war alles andere als schnell. Die meiste Zeit saß sie mit halb geschlossenen Augen auf der Fensterbank und betrachtete träge das aufgeregte Treiben der Stadttauben. Die Katze war so entspannt, dass man vom bloßen Zuschauen in eine meditative Stimmung gelangte. Eines Nachmittags im Sommer, ich kann mich genau erinnern, es war kurz vor meinem Examen, ich war unruhig und saß grübelnd und mit Karteikarten und Büchern bewehrt, auf meiner Dachterrasse, da passierte es:

Plötzlich vernahm ich ein leises Maunzen und spürte, wie etwas Seidenzartes um meine nackten Beine strich. Ich blickte nach unten und in diesem Moment hüpfte Schmidts Katze auf meinen Schoß. Die Karteikarten und ein Buch fielen zu Boden. Die Katze störte das nicht. Sie blinzelte mich schlaftrunken an, drehte sich dann ein paar Mal auf meinem Schoß hin und her, bis sie die beste Position gefunden hatte, und schnurrte friedlich vor sich hin. Ich war baff, vor allem auch, weil ich Katzen eigentlich gar nicht besonders mochte. Aber dieser sonnenwarme weiche Katzenkörper auf meinem Schoß bewirkte eine unglaubliche Veränderung. Auf einmal fühlte ich mich gar nicht mehr gestresst. Die Sorgen und Examensängste fielen von mir ab und ich war so entspannt, dass ich fast selbst angefangen hätte zu schnurren…

Da hörte ich ihn rufen: »Glück, wo bist du? Glück, komm nach Hause…« Ich erwachte aus meiner Tiefenentspannung. Das war doch Herr Schmidt, der da rief?! Fing er nun völlig an zu spinnen? Dass er sich jetzt schon bei hellichtem Tage aus dem Fenster beugte und nach dem Glück schrie, das war doch schon mehr als sonderbar. Doch im nächsten Moment begriff ich: Schmidts Katze hieß GLÜCK! Als sie ihr Herrchen rufen hörte, sprang sie anmutig auf den Boden, tigerte übers Dach und landete mit einem Satz auf dem Fensterbrett von Herrn Schmidt, wo bereits ein Schälchen Milch auf sie wartete. Herr Schmidt lächelte und meinte: »Gott sei Dank, Glück, dass du wieder da bist, ich dachte schon, du bist fort.«

Diese Geschichte fiel mir ein, als ich kürzlich wieder einmal über das Glück nachdachte. Vielleicht sollte ich es wie einst Herr Schmidt machen: Ich stelle einfach ein Tässchen Milch aufs Fenster­brett, dann rufe ich: »Glück, komm nach Hause!« und vielleicht habe ich ja Glück – und das Glück lässt sich zu mir locken…

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