Vom Glück des Maßhaltens
Kennen Sie das auch? Da sitzt man gemütlich vor dem Fernseher – und plötzlich packt einen die Gier: nach Knabberzeug, nach Pizza, Schokolade oder Eis. Oder nach den Dingen, die wir gerade in der Werbung sehen. Eigentlich brauchen wir weder einen neuen Fernseher noch ein neues Auto – aber wenn doch gerade so günstige Rabatte und Ratenkäufe locken? Die Gier nach mehr, nach viel mehr »Lebensfülle« steckt in jedem von uns. Doch die Frage ist: Braucht Lebenskunst Fülle und wenn ja: Wie finden wir das richtige Maß?
Macht Übermaß unglücklich –
vielleicht sogar ein Übermaß an Glück?
Ich versuche, mich einer Antwort auf philosophischem Weg zu nähern: Macht Übermaß unglücklich – vielleicht sogar ein Übermaß an Glück? Ich ziehe den Vorsokratiker EPIKUR (um 341-270 v. Chr.) zu Rate. Dieser griechische Philosoph der Antike meinte dazu:
»Der Anfang und die Wurzel alles Guten ist die Lust des Bauches«.
Nun, das würde ja kleine Fressanfälle vor dem Fernseher direkt legitimieren! Doch tatsächlich meinte Epikur damit nicht, man solle einer Philosophie des Übermaßes und des reinen Lustgewinns frönen, wie es die Hedonisten befürworten. Ganz im Gegenteil bedeutete für Epikur und seine Anhänger die »Lust des Bauches« vor allem maßvolles Genießen. Das Ziel der epikureischen Philosophie war es, im Hier und Heute lustvoll zu leben, Schmerz, Leid und Ängste zu vermeiden und sich in Gesellschaft guter Freunde in freudiger Gelassenheit zu üben. Anders als oft vermutet, lässt Epikurs Ethik keinerlei Raum für ungezügelte Ausschweifungen und ein Übermaß an Emotionen.
Auch die antiken Stoiker wie der römische Philosoph und Universalgelehrte Lucius Annaeus SENECA (1-65 n. Chr.) hielten nichts von Maßlosigkeit. Besonders erstrebenswert war es für sie, den Widrigkeiten des Lebens mit größtmöglicher Gelassenheit und Selbstbeherrschung zu begegnen. Auch der Berliner Philosoph WILHELM SCHMID gibt in seinen Lebenskunstvorlesungen die Weisung aus:
»Nichts im Übermaß – auch nicht die Selbsterkenntnis.«
Und was finde ich dazu bei den Theologen? HANS KÜNG, der Schweizer Theologe und Gründer der Stiftung Weltethos, erklärt in seinem Buch „Was ich glaube“:
» (…) dass es keinen Sinn hat, sein Glück allein auf Genuss und Wohlstand aufzubauen, dass man sich nicht von den Gesetzen des Prestiges und der Konkurrenz leiten lassen und beim Kult des Überflusses nicht mitmachen sollte.«
Die 10 neuen Gebote der modernen Eventgesellschaft
Aber was ist der »Kult des Überflusses«? Er scheint schuld daran zu sein, dass wir glauben, ständig konsumieren zu müssen, um uns und anderen zu beweisen, dass wir glücklich sind. Daraus muss ich schließen: Wenn ich mich der Maßlosigkeit hingebe, dann bin ich ein stupider Mitläufer einer hedonistischen Eventgesellschaft, die sich im 21. Jahrhundert 10 neue Gebote geschaffen hat:
- Mehr kaufen
- Mehr genießen
- Mehr erleben
- Mehr arbeiten
- Mehr leisten
- Mehr verdienen
- Mehr besitzen
- Mehr darstellen
- Mehr Spaß haben
- Und am Besten alles davon im Überfluss
Will ich dieses »Mehr, mehr, mehr!« in meinem Leben wirklich? Was bringt es, 250 Facebook-Freunde zu haben, 100 Paar Schuhe und Statussymbole, mit denen ich Menschen beeindrucke, die ich nicht mag? Muss ich maßlos für meine Karriere arbeiten, um dann in den Burn-out zu stürzen? Will ich mich in einer Welt voller Events »zu Tode amüsieren«?
Für mich selbst kann ich die Frage klar beantworten: Nein – das will ich nicht. Ich will keine 1000 Fernsehkanäle und keine ständig neuen Kicks, die grell und flüchtig sind wie ein Blitz. Stattdessen will ich lernen, gut und richtig zu leben. Wenn Sie das auch wollen, dann ist Fortüne – das Forum der Lebenskunst – jetzt eine neue Quelle der Inspiration für Sie.
Lebenskünstler ticken anders
Ein warmes, lang leuchtendes Licht im Leben bekomme ich nur, wenn ich die »ars vitae«, also die Lebenskunst beherrsche – und mich nicht leben lasse. Wenn ich meine Talente kenne und sie für mich und andere einsetze. Wenn ich anderen helfe und mich engagiere. Wenn ich bereit bin, mich von der Gier nach »Must have«- und »In«-Produkten und schnelllebigen Trends zu lösen und den Sinn im Wissen, Erkennen und Anwenden meiner Fähigkeiten suche. Wenn ich also mein Leben selbst-bewusst und mutig lebe – auch auf die Gefahr hin, dass die Masse mich sonderbar findet.
Lebenskünstler ticken immer anders; sie sind »sonderbar«, weil sie sich wie Pippi Langstrumpf ihre eigene Welt erschaffen. Sie stürzen sich nicht maßlos in Events oder Kauflust, sie setzen auf das, was in ihnen ist und was sie aus sich heraus erschaffen.
Erlernte Hilflosigkeit – erlernte Maßlosigkeit
Aus der Gehirnforschung wissen wir, dass es eine »Erlernte Hilflosigkeit« gibt – vielleicht gibt es dann auch so etwas wie eine »erlernte Maßlosigkeit«? Vielleicht können wir durch Mäßigung unserer Emotionen unserem Gehirn und unseren Glückshormonen beibringen, dass Weniger mehr ist?! Wir können versuchen, uns mehr Lebensqualität zu schenken, indem wir uns Selbstbeschränkung auferlegen – nicht nur beim Konsumieren, sondern vor allem auch bei schädlichen Emotionen wie Aggressionen, Ängsten, Sorgen und Ärger.
Ich selbst habe festgestellt, dass »Maß halten« und Disziplin viel dabei helfen, Sorgen und Grübeleien auszublenden.
Doch nicht jeder ist so leichtlebig veranlagt wie Scarlett O´ Hara im Film „Vom Winde verweht“: Hatte sie Sorgen, so sagte sie sich einfach: »Verschieben wir´s doch lieber auf morgen«.
Diese Strategie des Verdrängens und Verschiebens habe ich für mich umgewandelt. Wenn mein Kopf sich im Sorgenkarussell dreht, halte ich es an und sage: »Stopp! Du darfst dir heute Abend um 17.30 eine halbe Stunde lang Sorgen machen und über deine Probleme grübeln, aber jetzt nicht.« Diese Anti-Grübel-Disziplin hilft mir viel – versuchen Sie es doch auch einmal
Mäßigung als Lustgewinn
Maßhalten muss nämlich gar nicht den säuerlichen Beigeschmack von Askese oder lustfeindlichem Moralisieren haben. Mäßigung – besonders auch bei negativen Emotionen! – kann sehr befreiend und ein echter Lustgewinn sein.
Wie Rolf Dobelli (Die Kunst des klugen Handelns) schreibt, ist zum Beispiel auch eine »News-Diät« sehr bekömmlich: Ich muss nicht jede neue negative Schlagzeile in den Zeitungen kennen, nicht alle Katastrophenmeldungen und schlimmen Bilder in den Nachrichten wie ein Schwamm in mich aufsaugen. Manchmal ist es besser, einen ganzen Tag – oder länger – auf diesen Überfluss an schlechten Nachrichten zu verzichten. Wie wär´s mit einem wöchentlichen »News-Fastentag«? Ich mache das – und es ist wie ein Kurzurlaub, eine erholsame Auszeit vom Mediengeschrei. Ähnlich ist es mit dem Internet. Dort kann ich zwar ein Übermaß an Informationen über ein Thema finden – aber viel besser ist es, sich gezielt die Rosinen herauszupicken.
Übrigens können Sie im Fortüne-Blog auch Ihre Kommentare zum Thema Lebenskunst anbringen.
MEIN BUCH-TIPP:
Rolf Dobelli, Die Kunst des klugen Handelns. Carl Hanser Verlag München.
♥♥♥ Bitte schaut auch in meinen DEUTSCH-Blog: Dort findet ihr interessante THEMEN zur SPRACHE, z.B. hier zum »inneren Schweinehund« oder zum »Trotzkopf«: